Die Verrechnung Von Verlusten Nach Art. 674 OR: Zuständigkeit Und Andere Modalitäten

BK
Bär & Karrer

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Im Rahmen der per 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Aktienrechtsrevision haben die in Art. 671 ff. aOR geregelten gesetzlichen Reserven substanzielle Änderungen erfahren.
Switzerland Corporate/Commercial Law
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I. Überblick über die gesetzlichen Neuerungen und die vorliegende Fragestellung

Im Rahmen der per 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Aktienrechtsrevision haben die in Art. 671 ff. aOR geregelten gesetzlichen Reserven substanzielle Änderungen erfahren. Die im bisherigen Recht vorgesehene «allgemeine Reserve» wurde durch die neuen «gesetzlichen Reserven» abgelöst (bestehend aus der «gesetzlichen Kapitalreserve» und der «gesetzlichen Gewinnreserve»);1 damit wurde das Aktienrecht in diesem Punkt an die bereits 2013 in Kraft getretene Revision des Rechnungslegungsrechts angeglichen.2 Damals wurde im Rahmen der Mindestgliederung der Bilanz diese Neuunterteilung der Reserve eingeführt.3 Der gesetzlichen Kapitalreserve sind insbesondere das Agio und andere Kapitaleinlagen von Aktionären zuzuweisen;4 die gesetzliche Gewinnreserve wird bis zum Erreichen der im Gesetz festgelegten Obergrenze5 mit jeweils 5% des Jahresgewinns gespiesen.6 Die sogenannte «zweite Zuweisung» an die Reserven bei Bezahlung einer «Superdividende» ist unter neuem Aktienrecht weggefallen.7

Zusätzlich zur Neugliederung der gesetzlichen Reserve trat per 1. Januar 2023 auch der neue Art. 674 OR in Kraft, der im Fokus des vorliegenden Beitrages steht. Wie die Marginalie verrät, regelt die Bestimmung – in Konkretisierung bzw. Ergänzung zu Art. 671 Abs. 3 aOR und der diesbezüglichen Praxis – die «Verrechnung mit Verlusten».8 Dabei handelt es sich bei richtiger Betrachtung stets um die Verrechnung des Jahresverlustes (und nicht etwa um die Verrechnung bestehender Verlustvorträge).9

Abs. 1 gibt neu explizit eine klare Reihenfolge vor, in welcher anfallende Verluste zu verrechnen sind: Liegt aus dem Vorjahr ein Gewinnvortrag vor, erfolgt die Verrechnung eines Jahresverlusts zunächst mit diesem Gewinnvortrag (Ziff. 1). Liegt kein Gewinnvortrag vor, oder übersteigt der Jahresverlust den vorhandenen Gewinnvortrag, so ist der Jahresverlust bzw. die den Gewinnvortrag übersteigende Differenz mit allfällig bestehenden freiwilligen Gewinnreserven zu verrechnen (Ziff. 2).10 Falls keine oder nicht genügend freiwillige Gewinnreserven vorliegen, sind Verluste mit der gesetzlichen Gewinnreserve (Ziff. 3) und – falls es auch an einer solchen im erforderlichen Umfang fehlt – mit der gesetzlichen Kapitalreserve (Ziff. 4) zu verrechnen.11 Diese Reihenfolge der Verlustverrechnung ist zwingend zu befolgen. Damit wurde der unter altem Recht noch bestehende Lehrstreit, ob vor Verrechnung mit der allgemeinen (gesetzlichen) Reserve zwingend die freiwilligen Reserven zu eliminieren sind, vom Gesetzgeber i.S. der überwiegenden Lehre und Praxis entschieden.12 Heute ist die Reihenfolge «von unten nach oben»13 verbindlich. Nach der Revision von Art. 725 aOR und im Lichte der Tatsache, dass die Verrechnung von gesetzlichen Kapitalreserven oft steuerlich nachteilig ist, gäbe es ohnehin kaum praktische Gründe, von dieser Reihenfolge abzuweichen.

In Abweichung des vorstehend erwähnten Abs. 1 eröffnet Abs. 2 der Gesellschaft jedoch die Möglichkeit, verbleibende Verluste anstelle der Verrechnung mit der gesetzlichen Gewinn- oder Kapitalreserve teilweise oder ganz auf die neue Jahresrechnung vorzutragen – ggf. nach erfolgter (zwingender) Verrechnung mit einem Gewinnvortrag und/oder den freiwilligen Gewinnreserven. Diese Wahlmöglichkeit im Umgang mit Verlusten ist jedoch keineswegs neu, sondern entspricht einer bisherigen Übung.14

Eine Ausnahme vom zwingenden Abs. 1 zugunsten einer freiwilligen Verrechnung kann – entgegen dem Wortlaut – u.E. dann angebracht sein, wenn eine Gesellschaft zur Abwendung eines Kapitalverlusts unter altem Recht15 gesetzliche Kapitaleinlagereserven in freie Reserven umgewandelt hat.16 Dieser (Spezial-)Fall konnte insbesondere noch nicht profitable Wachstumsunternehmen («Startups») betreffen, welche sich naturgemäss regelmässig mit der Problematik des drohenden Kapitalverlustes konfrontiert sehen. Aus steuerrechtlicher Perspektive stellt sich dabei die zentrale Frage, ob Verluste unter neuem Aktienrecht nun zwingend mit solchen ursprünglich aus Kapitaleinlagen stammenden Reserven verrechnet werden müssen, zumal eine solche Verrechnung die Vernichtung steuerrechtlich privilegierter Kapitaleinlagereserven zur Folge hätte. Nach unserer Auffassung ist jedoch i.S. einer materiellen Betrachtungsweise auf den «Ursprung» der entsprechenden Reserven abzustellen und nicht auf deren Bezeichnung in der Bilanz. Solche umgebuchten «freiwilligen Gewinnreserven» sollten gedanklich deshalb weiterhin als gesetzliche Kapitalreserven betrachtet werden dürfen, und deren Verrechnung sollte für den Verwaltungsrat17 auch unter dem neuen Art. 674 OR entsprechend freiwillig sein.18

Ebenfalls im Rahmen der Aktienrechtsrevision ist ein neuer Art. 959a Abs. 2 Ziff. 3 lit. g OR in Kraft getreten, welcher vorschreibt, dass unter den Passiven in der Bilanz nicht nur der Gewinn- bzw. Verlustvortrag, sondern auch der Jahresgewinn bzw. -verlust einzeln auszuweisen sind.

Getrieben durch diese Gesetzesänderungen wurde eine schon früher geführte Diskussion darüber wiederbelebt, ob es nun in den Zuständigkeitsbereich der Generalversammlung oder des Verwaltungsrates falle, die Verlustverrechnung mit gesetzlichen Reserven oder den Vortrag von Verlusten auf die neue Jahresrechnung zu beschliessen. Auf diese Frage nach der Kompetenzverteilung zwischen Verwaltungsrat und Generalversammlung soll in vorliegendem Beitrag vertieft eingegangen werden. Ebenfalls aufgeworfen werden in diesem Beitrag die Rolle der Revisionsstelle (if any) sowie weitere Modalitäten der Verlustverrechnung, wie der zeitliche Ablauf und die Ausweisung der verschiedenen Positionen in der Bilanz.

Als Nebenbemerkung sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auch ein Jahresgewinn – auch wenn im Gesetz nirgends explizit festgehalten – ganz oder teilweise auf die neue Jahresrechnung vorgetragen werden kann, sofern er nicht vollumfänglich einer Reserve zugewiesen oder als Dividende ans Aktionariat ausgeschüttet wird.19

Footnotes

1. Vgl. Art. 671 f. OR. 2 Vgl. Art. 959a Abs.

2. Ziff. 3 lit. b und c OR.

3. Vgl. auch den Entwurf zum neuen Aktienrecht aus dem Jahr 2007, welcher noch die gemeinsame Revision von Aktien- und Rechnungslegungsrecht vorsah (und die Neufassung von Art. 959a OR bereits enthielt), bevor das neue Rechnungslegungsrecht dann als eigene Revision «abgespalten» wurde. Mit der nunmehr verspäteten Umsetzung der Aktienrechtsrevision hinkte das Aktien- dem Rechnungslegungsrecht in diesem Punkt sozusagen hinterher.

4. Art. 671 Abs. 1 OR.

5. Die gesetzlich vorgesehene Obergrenze ist erreicht, wenn die Summe aus gesetzlicher Kapitalreserve und gesetzlicher Gewinnreserve die Hälfte des im Handelsregister eingetragenen Aktienkapitals erreicht; für Holdinggesellschaften gilt eine Obergrenze von 20%, vgl. Art. 672 Abs. 2 OR.

6. Art. 672 OR; vgl. zum Ganzen Peter Böckli, Schweizer Aktienrecht, Zürich/Genf 2022, § 6 N 441; Sammy Guidoum, Dividenden und Rückzahlungen der gesetzlichen Kapitalreserve bei der Aktiengesellschaft, Diss. St. Gallen 2023, N 315 ff. (= SSHW 360).

7. Vgl. Art. 671 Abs. 2 Ziff. 3 aOR; Guidoum (FN 6), N 315.

8. Vgl. BSK OR II-Neuhaus/Balkanyi (5. Aufl.), Art. 671 N 26; Böckli (FN 6), § 6 N 424; Treuhand-Kammer, Schweizerisches Handbuch der Wirtschaftsprüfung, Band «Buchführung und Rechnungslegung», Zürich 2014, 229.

9. Vgl. Botschaft AG 2016, 525; ausführlich hierzu Guidoum (FN 6), N 341.

10. Zur Kritik an der zwingenden Verrechnung mit freiwilligen Gewinnreserven vgl. ZK-Handschin, Art. 671–671b OR (Art. 659a Abs. 4, 671, 672, 674 und 725c Abs. 3 OR 2020) N 23 f.

11. Vgl. für eine übersichtliche Darstellung Urs Schenker/Olivier Schenker, Praxisleitfaden zum revidierten Aktienrecht, Bern 2023, 156 f.

12. Vgl. zum vormaligen Lehrstreit Peter Böckli, Schweizer Aktienrecht (4. Aufl.), Zürich/Basel/Genf 2009, § 8 N 314; CHK-Imark/ Lipp, Art. 671 OR N 15.

13. Lukas Glanzmann, Das Eigenkapital gemäss neuem Aktienrecht, SJZ 2022, 755 ff., 759; Jean Nicolas Druey/Eva Druey Just/ Lukas Glanzmann, Gesellschafts- und Handelsrecht, Zürich/ Basel/Genf 2021, § 8 N 23; vgl. auch Art. 959a Abs. 2 Ziff. 3 OR, auf dessen bilanzielle Darstellung sich das Bild bezieht.

14. Böckli (FN 6), § 6 N 425.

15. Mit der Klarstellung in Art. 725a Abs. 1 OR, wonach für die Berechnung des hälftigen Kapitalverlustes lediglich die nicht an die Aktionäre rückzahlbaren gesetzlichen Reserven zu berücksichtigen sind, wurde diese Vorgehensweise hinfällig, vgl. hierzu auch FN 104.

16. Vgl. zum Hintergrund dieser Vorgehensweise aus steuerrechtlicher Perspektive Stefan Oesterhelt/Susanne Schreiber: Kreis Vgl. zum Hintergrund dieser Vorgehensweise aus steuerrechtlicher Perspektive Stefan Oesterhelt/Susanne Schreiber: Kreis

17. Vgl. zur Zuständigkeit ausführlich Teil II unten.

18. Vgl. betreffend eine praktische Herangehensweise auch Teil IV.2 unten.

19. Ein solcher Gewinnvortrag wurde unter dem bisherigen Rechnungslegungsrecht scheinbar der freiwilligen Gewinnreserve zugerechnet (in der Praxis aber bereits meist separat verbucht), heute ist er gemäss Art. 959a Abs. 2 Ziff. 3 lit. f OR als eigenständige Bilanzposition zu erfassen; Druey/Druey Just/Glanzmann (FN 13), § 8 N 22.

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