Am 2. März 2018 wurde die Vernehmlassung zu einer Teilrevision der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) eröffnet. Der Vorentwurf bezweckt insbesondere eine Stärkung des kollektiven Rechtsschutzes. Ausserdem werden verschiedene punktuelle Änderungen vorgeschlagen, mit denen die Funktionstauglichkeit der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen ZPO – und damit die Rechtsdurchsetzung in der Schweiz – weiter verbessert werden soll.

1 HINTERGRUND DES REVISIONSPROJEKTS

Seit dem Inkrafttreten der eidgenössischen ZPO, welche die früheren kantonalen Regelungen abgelöst und das Zivilprozessrecht schweizweit vereinheitlicht hat, sind sieben Jahre vergangen. Während dieser Zeit hat sich die ZPO bewährt und als praxistauglich erwiesen.

Mit der vorgeschlagenen Revision soll – im Anschluss an den Bericht des Bundesrates zum kollektiven Rechtsschutz vom Juli 2013 – die Durchsetzung von Ansprüchen bei Massenschäden durch eine Neuregelung der Verbandsklage und die Schaffung eines Gruppenvergleichsverfahrens erleichtert werden. Die ZPO-Revision greift dabei Vorschläge wieder auf, die bereits im Vorentwurf des Bundesgesetzes über Finanzdienstleistungen (FIDLEG) aus dem Jahre 2014 enthalten waren, in der damaligen Vernehmlassung aber wegen ihrer allgemeinen Bedeutung über die Finanzbranche hinaus zu Recht auf Ablehnung gestossen waren. Ausserdem sollen punktuelle Schwachpunkte der ZPO, welche sich in der bisherigen Anwendung offenbart haben, durch entsprechende Anpassungen eliminiert werden. Die Revisionsvorlage bündelt damit ganz verschiedenartige Vorschläge im Bereich des Zivilprozessrechts.

Dieser Newsletter stellt die bedeutendsten Revisionsvorschläge – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – kurz vor.

2 STÄRKUNG DER KOLLEKTIVEN RECHTSDURCHSETZUNG

2.1 DIE VERBANDSKLAGE IM GELTENDEN RECHT

Nach geltendem Recht können Vereine und andere Organisationen zur Wahrung kollektiver Interessen im Rahmen des sog. Verbandsklagerechts gemäss Art. 89 ZPO nur nicht-monetäre Klagen auf Unterlassung, Beseitigung oder Feststellung der Widerrechtlichkeit eines Verhaltens anstrengen.

2.2 ERWEITERUNG DES VERBANDSKLAGERECHTS

Der Revisionsvorschlag sieht die Einführung einer reparatorischen Verbandsklage vor, die eine kollektive Durchsetzung von finanziellen Ansprüchen insbesondere bei Massenschäden erlauben soll. Im Erläuternden Bericht werden als mögliche Anwendungsfälle Schäden aufgrund des Verkaufs fehlerhafter Produkte genannt, aber auch kartellrechtswidrige oder unlautere Geschäftspraktiken, welche eine Vielzahl von Personen betreffen.

Zusätzlich zu den bestehenden Klagemöglichkeiten könnten künftig gemäss neuem Art. 89a mit der Verbandsklage auch Schadenersatz, Gewinnherausgabe oder Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung gefordert werden. Dabei würde der Verband in eigenem Namen finanzielle Ansprüche der einzelnen Angehörigen der repräsentierten Personengruppe geltend machen. Demgegenüber bliebe die Geltendmachung von Genugtuungsansprüchen vom Verbandsklagerecht weiterhin ausgeschlossen.

Zur Ausübung des Verbandsklagerechts wären neu Organisationen befugt, wenn sie

  • nicht gewinnorientiert sind;
  • in ihren Statuten oder Satzungen die Wahrung der Interessen der betroffenen Personengruppe vorsehen; und
  • über die fachlichen, organisatorischen und finanziellen Ressourcen verfügen, die sie für die Interessenwahrung der betroffenen Personengruppe geeignet erscheinen lassen.

Die Erhebung einer reparatorischen Verbandsklage würde voraussetzen, dass

  • die betroffenen Angehörigen der repräsentierten Personengruppe aufgrund einer Rechtsverletzung selbst finanzielle Ansprüche haben;
  • ein Prozessgewinn überwiegend der Personengruppe zukommt oder ausschliesslich in deren Interesse verwendet wird;
  • die betroffenen Angehörigen der Personengruppe die Organisation nachweisbar zur Prozessführung ermächtigt haben; und
  • die klagende Organisation zur Geltendmachung von finanziellen Ansprüchen geeignet ist (z.B. aufgrund gesamtschweizerischer Tätigkeit und mehrjähriger Erfahrung im betroffenen Rechtsgebiet).

Auf betroffene Personen, welche die klagende Organisation nicht zur Prozessführung ermächtigen, würde ein Urteil über die Verbandsklage keine Wirkung entfalten (sog. "opt in"-System). Entsprechend wäre die Organisation verpflichtet, die Öffentlichkeit spätestens bei Klageerhebung angemessen zu informieren, damit sich betroffene Personen der Klage noch anschliessen können.

2.3 SCHAFFUNG EINES GRUPPENVERGLEICHSVERFAHRENS

Als zweites wesentliches Element zur Verbesserung des kollektiven Rechtsschutzes sieht der Vorentwurf in den Art. 352a ff. die Schaffung eines neuen Gruppenvergleichsverfahrens vor. Die vorgeschlagene Regelung orientiert sich an einem vergleichbaren Instrument, welches seit 2005 in den Niederlanden existiert.

Im Wesentlichen soll ermöglicht werden, dass eine Person, der eine Rechtsverletzung vorgeworfen wird, mit einer zu einer Verbandsklage legitimierten Organisation einen Gruppenvergleich über die Folgen dieser Rechtsverletzung schliessen kann. In der Folge kann der Gruppenvergleich auf Antrag von einem Gericht genehmigt und für sämtliche betroffenen Personen verbindlich erklärt werden. Dadurch würde der Gruppenvergleich für sämtliche Betroffenen bindend, es sei denn, sie erklärten einzeln innert einer Frist von mindestens drei Monaten schriftlich den Austritt (sog. "opt out"-System). Die Parteien eines Gruppenvergleichs könnten zudem vereinbaren, dass dieser widerrufen werden kann, wenn innert Frist mehr als eine bestimmte Anzahl an Betroffenen ihren Austritt erklärt.

Der Vorentwurf enthält Vorschriften über den zwingenden Inhalt des Gruppenvergleichs. Dieser müsste mindestens folgende Elemente soweit möglich präzisieren:

  • die vorgeworfene Rechtsverletzung und den dadurch verursachten Schaden;
  • die Gruppe der betroffenen Personen und deren Anzahl;
  • die maximal zu leistende Entschädigungssumme sowie ihre ungefähre Aufteilung auf die Betroffenen;
  • die Voraussetzungen für die Ausrichtung einer Entschädigung;
  • das Verfahren zur Geltendmachung, Festlegung und Auszahlung der Entschädigungen an die betroffenen Personen; sowie
  • die Kostentragung.

Der Revisionsvorschlag sieht daneben detaillierte Vorschriften über das Gerichtsverfahren zur Genehmigung und Verbindlicherklärung des Gruppenvergleichs vor. Das Gericht hätte vor der Genehmigung eines Gruppenvergleichs insbesondere die Angemessenheit der vereinbarten Entschädigung zu prüfen. Zudem wäre ein Gruppenvergleich nur dann genehmigungsfähig, wenn die relevante Rechtsverletzung eine genügend grosse Anzahl von Personen betrifft, sodass eine Verbindlicherklärung für sämtliche Betroffenen gerechtfertigt erscheint.

3 PUNKTUELLE ANPASSUNGEN DER ZPO

3.1 ABBAU VON KOSTENSCHRANKEN

Der Revisionsvorschlag sieht weiter verschiedene Anpassungen des Prozesskostenrechts vor. Namentlich sollen die Prozesskostenvorschüsse auf maximal die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten begrenzt werden (Art. 98). Zudem sollen die Gerichtskosten nur noch insoweit mit den von einer Partei geleisteten Vorschüssen verrechnet werden, als dieser Partei im Entscheid die Kosten auferlegt werden (Art. 111). Das Inkassorisiko soll damit künftig beim Staat und nicht mehr bei den Parteien liegen.

Diese Anpassungen gehen auf "vielstimmige Kritik" am geltenden Prozesskostenrecht zurück, das als faktische Zugangsschranke für Rechtsuchende oder auch als "Paywall" gerügt wurde. Eine Abschaffung der Kostenvorschüsse oder deren Reduktion auf eine blosse "Warngebühr" lehnt der Bundesrat dagegen ab, da die Filterfunktion, namentlich die Verhinderung missbräuchlicher oder querulatorischer Klagen, weiterhin greifen soll.

Schliesslich sollen die Gerichte die Parteien im Rahmen der Aufklärung über die Prozesskosten nach Art. 97 ZPO zusätzlich auf die Möglichkeiten der Prozessfinanzierung hinweisen. Es wird sich zeigen, ob die Prozessfinanzierung, ein verhältnismässig junges Instrument im schweizerischen Zivilprozess, dadurch – die Umsetzung des Vorschlags vorausgesetzt – weiter an Schwung gewinnen wird.

3.2 MITWIRKUNGSVERWEIGERUNGSRECHT FÜR UNTERNEHMENSJURISTEN

In einem neuen Art. 160a sollen die Mitwirkungspflichten von Unternehmensjuristen im Beweisverfahren beschränkt werden. Die vorgeschlagenen Verweigerungsrechte kommen (i) nur für berufsspezifische Tätigkeiten zur Anwendung und (ii) nur dann, wenn der Rechtsdienst unter der Leitung einer Person steht, welche die fachlichen Voraussetzungen für die Ausübung des Anwaltsberufs erfüllt. Neben der Einräumung eines Zeugnisverweigerungsrechts würde neu insbesondere auch die Pflicht zur Edition von Urkunden entfallen, welche im Verkehr mit dem Rechtsdienst entstanden sind.

Ziel der Regelung ist die Vermeidung prozessualer Nachteile für Schweizer - gegenüber ausländischen – Unternehmen. Nach geltendem Recht kommen strafrechtliche Geheimnispflichten (vgl. Art. 321 StGB), welche Mitwirkungsverweigerungsrechte im Zivilprozess begründen, ausschliesslich freiberuflich tätigen Anwälten zu. Die Frage des Geheimnisschutzes von Unternehmensjuristen war in den letzten Jahren bereits verschiedentlich Gegenstand von Vorschlägen, die aber allesamt verworfen wurden.

3.3 STÄRKUNG DES SCHLICHTUNGSVERFAHRENS

Mit der Revision soll auch das Schlichtungsverfahren in mehreren Punkten ausgebaut werden. So wäre gemäss dem Vorschlag – anders als nach geltendem Recht – ein Schlichtungsverfahren nach Wahl der klagenden Partei auch dann möglich, wenn eine Klage in die Zuständigkeit des Handelsgerichts oder einer anderen gemäss Art. 5 ZPO für gewisse Streitigkeiten zuständigen einzigen kantonalen Instanz fällt. Dadurch soll zum einen die Möglichkeit der aussergerichtlichen Streiterledigung (die heute gemäss dem Erläuternden Bericht bereits bei 50% bis 80% liegt) weiter erhöht, zum anderen aber auch eine effiziente Verjährungsunterbrechung ermöglicht werden. Zu beachten ist, dass die vorgeschlagene Lösung aufgrund ihrer fakultativen Natur namentlich in internationalen Verhältnissen verschiedene Fragen hinsichtlich des Eintritts der Rechtshängigkeit aufwerfen würde.

3.4 STELLUNG VON PARTEIGUTACHTEN

Vorgeschlagen wird ferner, dass auch Gutachten, die von den Parteien privat in Auftrag gegeben und nicht vom Gericht angeordnet wurden (sog. Partei- oder Privatgutachten), beweisrechtlich als Urkunden gelten (Art. 177).

Diese Regelung bezweckt eine Abkehr von der Rechtsprechung des Bundesgerichts, wonach Privatgutachten lediglich die Bedeutung einer Parteibehauptung zukommt. Mit der formalen Qualifikation als eigentliche Beweismittel würden neu auch privat erstellte Gutachten einer freien gerichtlichen Würdigung zugänglich (Art. 157). Ihr Beweiswert würde dabei von einer Berücksichtigung aller relevanten Umstände im konkreten Einzelfall abhängen.

3.5 RECHTSMITTEL GEGEN ABWEISUNG SUPERPROVISORISCHER MASSNAHMEN

Mit der vorgeschlagenen Einführung eines Art. 265 Abs. 4 wird eine Klärung der Rechtslage für den Fall der vollständigen oder teilweisen Abweisung von Begehren auf Erlass superprovisorischer Massnahmen bezweckt. Als superprovisorisch werden (vorsorgliche) Massnahmen bezeichnet, die infolge besonderer Dringlichkeit sofort und ohne Anhörung der Gegenpartei angeordnet werden.

Die Revision will zunächst die gegenwärtig bestehende Unsicherheit ausräumen, ob gegen den Entscheid, mit dem das Gericht die Anordnung einer superprovisorischen Massnahme verweigert, überhaupt ein Rechtsmittel zur Verfügung steht; die vorgeschlagene Bestimmung geht ausdrücklich von einer Beschwerdemöglichkeit aus. Sodann legt der vorgeschlagene Art. 265 Abs. 4 fest, dass das Gericht auf Antrag der gesuchstellenden Partei bei einer vollständigen oder teilweisen Abweisung des Massnahmebegehrens mit der Eröffnung des Entscheids und der Einladung der Gegenpartei zu einer Verhandlung oder zur schriftlichen Stellungnahme zuwartet, bis über eine dagegen erhobene Beschwerde entschieden ist. Damit würde die heute bestehende Schwierigkeit beseitigt, dass die Gegenpartei bereits vor einem etwaigen Rechtsmittelverfahren über das Gesuch auf Erlass einer superprovisorischen Massnahme informiert wird und die Wirksamkeit der (noch nicht ausgesprochenen) Massnahme möglicherweise vereiteln kann.

3.6 ERLEICHTERUNGEN BEI EINGABEN BEIM FALSCHEN GERICHT

Die Revision will auch Prozessfallen im Bereich der gerichtlichen Zuständigkeit mildern. Vorgesehen ist, dass rechtzeitigen Eingaben auch dann fristwahrende Wirkung zukommt, wenn sie irrtümlich bei einem offensichtlich unzuständigen schweizerischen Gericht eingereicht werden (Art. 143 Abs. 1bis). Weiter könnte im Falle eines Unzuständigkeitsentscheids des Gerichts auf Antrag eine Überweisung der Klage an ein vom Kläger bezeichnetes anderes Gericht vorgenommen werden (sog. Prozessüberweisung), bei welcher die Rechtshängigkeit der ersten Klageeinreichung erhalten bleibt (Art. 60a).

3.7 VERBESSERUNG DER VERFAHRENSKOORDINATION

Gemäss dem Vorentwurf soll die koordinierte Geltendmachung mehrerer Ansprüche, namentlich bei einfacher Streitgenossenschaft, Streitverkündungsklage, Klagehäufung und Widerklage, erleichtert werden. Anpassungen sollen dabei insbesondere bei der oft als übermässig restriktiv empfundenen Voraussetzung der "gleichen Verfahrensart" vorgenommen werden.

3.8 NEUE VORSCHRIFTEN ZU ENTSCHEIDPUBLIKATIONEN UND STATISTIKEN

Schliesslich will der Vorentwurf dem Bundesrat die Kompetenz zu Regelungen betreffend die elektronische Publikation von Entscheiden einräumen (Art. 400 Abs. 2bis) und eine Grundlage für die Bereitstellung von Statistiken und Geschäftszahlen betreffend Zivilprozesse schaffen (Art. 401a).

4 AUSBLICK

Die Vernehmlassungsfrist dauert bis zum 11. Juni 2018. Den Ergebnissen darf mit Interesse entgegengesehen werden.

Mit Blick in die noch etwas fernere Zukunft ist schliesslich bemerkenswert, dass sich der Bundesrat im Erläuternden Bericht auch gegenüber einer weiteren Entwicklung und Positionierung der Schweiz als internationaler Justizplatz, wie in jüngster Zeit verschiedentlich angeregt, aufgeschlossen zeigt.

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