Vor einigen Wochen hatte der Bundesgerichtshof (BGH) Gelegenheit, erneut zu den Pflichten des Aufsichtsrats bei m˛glicher Organhaftung des Vorstands Stellung zu nehmen: Bereits im Jahr 1997 hatte der BGH in seiner vielbeachteten ,,Arag/ Garmenbeck''-Entscheidung (Az. II ZR 175/95) festgestellt, dass der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft aufgrund seiner Ûberwachungsfunktion dazu verpflichtet ist, m˛gliche Schadenersatzansprˇche der Aktiengesellschaft gegenˇber Vorstandsmitgliedern eigenverantwortlich zu prˇfen und durchsetzbare Schadensersatzansprˇche gegen Vorstandsmitglieder (grundsÌtzlich) zu verfolgen. Nur unter sehr engen Voraussetzungen kann im Einzelfall ausnahmsweise von der Geltendmachung von Schadensersatzansprˇ- chen abgesehen werden; unternehmerisches Ermessen steht dem Aufsichtsrat hierbei (im Kern) nicht zu. Kommt der Aufsichtsrat dieser Pflicht nicht nach, macht er sich gegen ˇber der Aktiengesellschaft wiederum selbst schadensersatzpflichtig. In der Praxis hat dies in den letzten Jahren zu einer deutlichen Zunahme der Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern durch Aufsichtsr Ìte gefˇhrt.

Frage der VerjÌhrung

In seiner neueren Entscheidung vom 18.9.2018 (Az. II ZR 152/17) knˇpft der BGH nun an die Grunds Ìtze seiner ,,Arag/Garmenbeck''- Entscheidung an und wendet sich im ersten Teil des Urteils erstmals der bislang noch nicht h˛chstrichterlich entschiedenen (Folge-)Frage zu, wann die VerjÌhrung von Schadenersatzanspr ˇchen einer Aktiengesellschaft gegen ein Aufsichtsratsmitglied beginnt, das seinerseits gegen ˇber der Aktiengesellschaft wegen des VerjÌhrenlassens von Organhaftungsanspr ˇchen der Gesellschaft gegen ein Vorstandsmitglied schadenersatzpflichtig geworden ist. Konkret ging es im jetzt entschiedenen Fall — vereinfacht skizziert — darum, dass der Vorstand einer Aktiengesellschaft pflichtwidrig entgegen den Kapitalerhaltungsvorschriften Einlagen an einen AktionÌr zur ˇckgewÌhrt hatte; dieser AktionÌr war zugleich Aufsichtsratsmitglied. Der Rˇckzahlungsanspruch gegen- ˇber dem AktionÌr war zwischenzeitlich bereits verjÌhrt. Schadenersatzanspr ˇche der Gesellschaft gegen den Vorstand wurden vom Aufsichtsrat nicht geltend gemacht und waren mittlerweile ebenfalls verj Ìhrt.

Dieses ,,VerjÌhrenlassen'' begrˇndet einen eigenen PflichtenverstoÞ des Aufsichtsrats. Der BGH stellt nunmehr h˛chstrichterlich klar, dass die VerjÌhrung dieses Schadenersatzanspruchs gegen ein Aufsichtsratsmitglied erst mit dem Zeitpunkt der VerjÌhrung des Ersatzanspruches der Gesellschaft gegen das Vorstandsmitglied beginnt, knˇpft also den VerjÌhrungsbeginn an den Zeitpunkt der letztm˛glichen Geltendmachung des Anspruches gegen den Vorstand an. Bis zu diesem Zeitpunkt, so der BGH weiter, bestˇnde noch die Gelegenheit, die Schadenersatzanspr ˇche gegen den Vorstand durchzusetzen und einen endgˇltigen Schadenseintritt abzuwenden.

Im zweiten Teil des Urteils wendet sich der BGH sodann der weiteren Fragestellung zu, ob und unter welchen Voraussetzungen Organmitglieder zur Offenbarung des eigenen Fehlverhaltens verpflichtet sind: Der BGH sieht dabei eine Verfolgungspflicht des Aufsichtsrats auch dann, wenn der PflichtenverstoÞ des Vorstands mit einer (parallelen) Pflichtverletzung des Aufsichtsrats (d. h. im Regelfall der Verletzung von Ûberwachungspflichten) einhergeht und die Verfolgung des Ersatzanspruchs gegen den Vorstand durch den Aufsichtsrat zugleich zwingt, den eigenen PflichtenverstoÞ des Aufsichtsrats zu offenbaren.

Der teilweise vertretenen Auffassung, solche FÌlle einer ,,Selbstbezichtigung'' von der Verfolgungspflicht auszunehmen, erteilt der BGH im konkreten Fall eine Absage; er beruft sich auf das Ûberwiegen der Interessen der Gesellschaft, die besondere Ûberwachungs- und Schutzfunktion des Aufsichtsrats, der aufgrund seiner Funktion in einem besonderen PflichtenverhÌltnis zur Gesellschaft stehe. Dies gilt, wie der BGH in einem obiter dictum kurz anmerkt, wohl selbst dann, wenn die Verfolgungspflicht eine Offenbarung des eigenen strafbaren Verhaltens mit sich bringen wˇrde; der BGH verweist darauf, dass dem gegebenenfalls durch ein strafrechtliches Verwertungsverbot hinreichend Rechnung getragen werden k˛nnte.

Die Entscheidung des BGH ˇberrascht nicht — bereits im Jahre 2012 hatte das Landgericht Essen im Fall Arcandor (Az. 41 O 45/10) bezˇglich des VerjÌhrungsbeginns der Ersatzanspr ˇche gleichermaÞen geurteilt — sie wirft in dogmatischer wie praktischer Sicht gleichwohl einige Fragen auf: Durch den spÌten Verj Ìhrungsbeginn fˇhrt das Urteil in der Praxis zu einer signifikanten Verl Ìngerung der Organhaftung bei einer Aktiengesellschaft. Konsequent weitergedacht, fˇhren von den Gesellschaftsorganen wechselseitig nicht geltend gemachte Organhaftungsanspr ˇche aus dem gleichen zugrundeliegenden haftungsrelevanten Sachverhalt zu einer Perpetuierung der Haftung. Es drÌngt sich daher die Frage auf, ob dies noch dem gesetzgeberischen Grundgedanken entspricht, wie er in der aktienrechtlichen VerjÌhrungsregelung des 0 93 Abs. 6 Aktiengesetz zum Ausdruck kommt.

Nach den vom BGH in seiner ,,Arag/Garmenbeck''-Entscheidung entwickelten GrundsÌtzen ist der Aufsichtsrat verpflichtet, etwaige Ersatzanspr ˇche gegen den Vorstand so bald wie m˛glich geltend zu machen. Was aber gilt nun in Hinsicht auf m˛gliche Verz˛gerungsschÌden, die zwischen diesem Zeitpunkt und VerjÌhrungsbeginn eintreten? Kann der vom Aufsichtsrat gegenˇber dem Vorstand geltend zu machende Anspruch (gegebenenfalls teilweise) bis zum Eintritt der VerjÌhrung nicht nachgeholt werden, etwa, weil der Anspruch nicht mehr (vollstÌndig) beweisbar ist, nicht mehr (vollstÌndig) durchsetzbar ist, oder wegen zwischenzeitlich entgangener Zinsen, knˇpft der BGH fˇr solche Verz ˛gerungsschÌden den VerjÌhrungseintritt wohl an den jeweils entsprechend frˇheren Zeitpunkt an. Dies fˇhrt zu einem in der Rechtspraxis nur schwer bestimmbaren gestuften VerjÌhrungseintritt fˇr (Teil-)Anspr ˇche in derartigen Sachverhalten.

Und letztlich zum weiteren Aspekt der Selbstbezichtigung: Umstritten ist bislang die Frage, ob die Rechtspflicht des Aufsichtsrats, VorstÌnde in die haftungsmÌÞige Verantwortung zu nehmen, auch vor der Offenlegung eigener haftungsbegrˇndender Pflichtverletzungen, also einer ,,Selbstbezichtigung'' des Aufsichtsrats nicht Halt macht. Der BGH vermeidet hierzu eine klare Festlegung und will dies von den jeweiligen Umst Ìnden im Rahmen einer Einzelfallabw Ìgung abhÌngig machen. Im konkreten Fall hatte das pers˛nliche Interesse des Aufsichtsratsmitglieds an der Nichtoffenbarung des eigenen Fehlverhaltens jedenfalls hinter dem Gesellschaftsinteresse zurˇckzustehen, genauere und zugleich allgemeing ˇltige Kriterien gibt der BGH der Rechtspraxis allerdings nicht an die Hand.

Reformbestrebungen

Im Ergebnis bleibt der Aufsichtsrat also gut beraten, seinen Ûberwachungsaufgaben und -pflichten fortlaufend nachzukommen, etwaige Ersatzanspr ˇche der Gesellschaft gegen den Vorstand zˇgig zu prˇfen und gegebenenfalls so frˇh wie m˛glich geltend zu machen. Geht dies mit einer m˛glichen eigenen Pflichtverletzung des Aufsichtsratsmitglieds einher, steht dem Aufsichtsratsmitglied nicht ohne Weiteres der Gedanke zur Seite, es mˇsse sich nicht selbst einer Pflichtverletzung bezichtigen. Auch in dieser besonderen Variante des Interessenkonflikts bleibt dem Aufsichtsratsmitglied — je nach Sachverhalt — gegebenenfalls die Niederlegung seines Mandats zu erwÌgen.

Bereits der Deutsche Juristentag 2014 hatte in einem seiner Beschl ˇsse eine Reform des VerjÌhrungsrechts fˇr die aktienrechtliche Organhaftung angemahnt — das aktuelle Urteil des BGH und seine praktischen Folgen fˇr die Organhaftung von AufsichtsrÌten geben diesen Reformbestrebungen neuen Auftrieb.

Originally published in Boersen-Zeitung

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